Soziale Plastik

Mit Joseph Beuys
Joseph Beuys nimmt die Herrausforderung an, sich dem anonymen Zuschauer auszusetzen

  • Lutz Mommartz /

  • 1969 /

  • 11:31 min - 16mm - s/w

Du kannst den Film auch hier herunterladen: archive.org


  • Elke Kaniaspacer

  • Mommartz’ radikale experimentelle Haltung führte ihn weder in die Abstraktion noch ins streng Konzeptuelle. Sein Ausgangspunkt war und ist die Interaktion mit der Kamera, die Beschäftigung mit dem Medium und den Menschen. Als Filmer begibt er sich stets in eine Konstellation, stellt sich eine Aufgabe und konzentriert sich auf eine einzige Idee. So auch in seinem Film Soziale Plastik. Die Dreharbeiten hierfür fanden 1969 in der Düsseldorfer Wohnung des Filmemachers statt. Im 16-mm-Film 400 m iFF1 (1969) verarbeitet Mommartz die Vorbereitungen für den Filmdreh mit Joseph Beuys: Als unerwartet die Freunde Otto Kellner und Norbert Stratmann in der Wohnung erscheinen, werden sie als Erste vor die Kamera gesetzt, es gibt keinerlei Handlungsanleitungen, die Kamera ist und bleibt statisch, es gibt keinen Schnitt, und am Anfang fällt ungeplant der Ton aus. Insgesamt laufen 400 m IFF-Agfa-Filmmaterial durch, was dem Film seinen Titel gibt.
    Als Betrachter*innen werden wir Zeug*innen eines „Scheiterns“, während der Vorgänge auf der Leinwand wird der Zuschauer zum Teilnehmer, da er nicht um die Frage herumkommt, wie er sich in derselben Situation verhalten hätte. Schließlich erscheint Beuys, und die Aufnahme von Soziale Plastik beginnt. Der Stummfilm zeigt das Close-up von Beuys, dessen Hutkrempe einen Bildabschluss am oberen Rand der Mise en Scène bildet. „Joseph Beuys übernimmt den Auftrag, sich dem anonymen Zuschauer gegenüber zu verhalten“, heißt es im vorangehenden Textinsert nach der Titeleinblendung. Während der elfminütigen Laufzeit bleibt die Einstellung unverändert, es findet nur ein (unmerklicher) Schnitt statt, bedingt durch den Wechsel der Filmrolle. Zu diesem Verzicht auf die Montage als manipulatives Mittel des Films kann der Filmemacher Ole John zitiert werden: „Schneiden ist vorbei. Man soll das Filmen, was man sehen will. Und das ist gut.“2 Im Hintergrund von Soziale Plastik erkennt man den Vorhang eines deutschen Wirtschaftswunder-Wohnzimmers. Der Muffigkeit und Enge in der Bundesrepublik Deutschland der Nachkriegszeit halten Beuys und Mommartz hier die eigene Erfahrung, Aufrichtigkeit, Öffnung und Offenheit im „Dialog“ mit dem Gegenüber entgegen. Die Erstaufführung des Films fand 1986 statt, dem Todesjahr von Beuys.
    Der Künstler und Aktivist Beuys setzte sich wie ein Modell auf einen Holzsessel und ließ sich vom Filmer Mommartz aufnehmen, indem er nicht mehr und nicht weniger tat, als seinen Blick auf die Kamera zu fokussieren. Er ist durchweg konzentriert, das macht die Rezeption des 16-mm-Films beinahe zu einer „körperlichen“ Erfahrung. Der Zuschauer wird unweigerlich zum Akteur in dieser ungeklärten Subjekt-Objekt-Beziehung. Das mag berührend sein, auch anstrengend – aber es ist fortwährend intensiv. Gleichzeitig ist der Film entrückt, da er ohne jeglichen Ton ist. Joseph Beuys, der von 1961 bis 1972 eine Professur für Bildhauerei an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf innehatte, stellt sich der Herausforderung des stummen Zwiegesprächs mit dem anonymen Zuschauer. Er will alle erreichen, jeden einzelnen, der sich auf die Situation einlässt – eine Herkulesleistung? Ist das Scheitern vorprogrammiert? Fast scheint es, als würden verschiedene Stadien einer imaginären Diskussion durchlaufen: Resignation, Öffnung für die Ideen und Worte des Gegenübers und Erkenntnis. Es gilt, den Blick zu ertragen, auszuhalten.
    Man sieht Beuys, und er steht als Signum für einen „erweiterten Kunstbegriff“ gleichermaßen wie für eine gesamtgesellschaftliche und politische Bewegung. Beuys wird zur Projektionsfläche, jedoch ist er hierbei „nur“ auslösendes Moment – primär geht es um das Ausloten, wie sich der Einzelne in Situationen verhält, in denen er nicht auf den Bereich seiner Erfahrungen zurückgreifen kann. Das deckt sich mit Beuys’ Ansatz der „Sozialen Plastik“: Im Gegensatz zu einem rein formalästhetischen Kunstbegriff umfasst die „Soziale Plastik“ als ein anthropologischer Kunstbegriff jegliche kreative menschliche Tätigkeit. Mit allem, was der Mensch gestaltet und somit als eine geistige Leistung schöpferisch hervorbringt, gilt der Einzelne als gesellschaftsverändernd aktiv. Im Film Soziale Plastik offenbart sich das Authentische als Kunst: Das Godard’sche Bonmot vom Filmen als „Wahrheit 24-mal in der Sekunde“ hat Mommartz in seinen Filmen wie kaum ein anderer bewusst gemacht.
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    • Lutz Mommartzspacer

    • Soziale Plastik wurde 1969 gedreht, und zwar gleich im Anschluß an 400 m IFF. IFF ist die Bezeichnung des zur Verfügung stehenden, bereits überlagerten Filmmaterials, von dem ca. 400 m für diesen Film und der Rest für "Soziale Plastik" verwendet wurden.
      In 400 m IFF geraten drei Männer vor die bereits laufende Kamera des Autors in dessen Wohnung. Mit Beuys war diese Situation verabredet, die beiden anderen kamen zufällig vor ihm und spielten instinktiv mit.
      "Sie merken alle die Ausnahmesituation, besitzen aber allesamt nicht die Souveränität, sich gegen sie durchzusetzen. Und noch während der Vorgänge auf der Leinwand wird der Betrachter zum Teilnehmer, indem er nicht um die Frage herumkommt, wie er sich in derselben Situation verhalten hätte."
      Der mit Beuys gleich anschließend gedrehte Film über den anonymen Zuschauer hat den Titel: "Soziale Plastik".
      Darin nimmt er die Herausforderung an, sich dem Zuschauer zu stellen ohne zu sprechen. Also hat der Film keine Tonspur. Er wurde erst 1988 - nach dem Tod von Beuys - von Lutz Mommartz öffentlich aufgeführt und kommt sozusagen aus dem Jenseits.
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